Unsere aktuelle Studie, die HIER heruntergeladen werden kann, untersucht die Auswirkungen der Leseerfahrung bei mehrsprachigen Kindern auf die sogenannte „Theory of Mind“ (ToM). Mit diesem Begriff bezeichnet man die kognitive Fähigkeit, sich in andere gedanklich hineinzuversetzen und deren Wünsche und Absichten einschätzen können. Diese Fähigkeit ermöglicht es uns u.a., nicht-wörtliche Redeformen zu verstehen oder Gedanken und Gefühle an den Augen des Gegenübers zu erkennen. Die ToM entwickelt sich im Vorschulalter. Dabei verstehen Kinder zuerst, dass man etwas Falsches glauben kann. Später lernen sie dann auch, dass zwei Menschen dieselbe Situation unterschiedlich wahrnehmen können.
Unsere Untersuchung wurde von zwei Befunden aus der Forschungsliteratur inspiriert, die wir in unserem Forschungsartikel diskutieren: Zum einen haben Studien an einsprachigen Kindern gezeigt, dass das Lesen in der Familie die ToM-Fähigkeiten von Kindern verbessert. Zum anderen haben andere Studien berichtet, dass die Teilnahme an bilingualen Programmen in der Schule positive Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung von Kindern hat.
Wir haben die ToM-Fähigkeiten von zweisprachigen Kindern untersucht, die in der Familie eine andere Sprache sprechen als in der Schule. Außerdem haben wir Daten dazu erhoben, was sie zuhause in der Familiensprache lesen bzw. schreiben. Unser Ziel war es, zu verstehen, ob das Erleben der Schriftsprache in der Familiensprache bei bilingualen Kindern die gleichen positiven Effekte auf die ToM-Entwicklung hat, die das Erleben von Schriftsprache in früheren Studien mit einsprachigen Kindern zeigte.
37 griechisch-italienische zweisprachige Kinder, die in Griechenland lebten (Alter 8 bis 11 Jahre) schauten Stummfilmszenen an, bei denen die beteiligten Personen unterschiedliches Wissen über die Situation hatten. Danach wurden ihnen Fragen zum Film gestellt. Die Schriftspracherfahrungen der Kinder in der Sprache der Gesellschaft (Griechisch) und die Schriftspracherfahrungen in der Familiensprache (Italienisch) wurde durch einen Elternfragebogen bewertet. Dieser Fragebogen enthielt Fragen zu verschiedenen schriftsprachlichen Aktivitäten, z.B. zum Lesen von Büchern, zum Schreiben von Nachrichten oder zum Spielen von Videospielen mit Text.
Unsere Studie zeigte, dass der Umgang mit Schriftsprache in der häuslichen Familiensprache ein signifikanter Vorhersagefaktor für die Leistungen der Kinder in der ToM-Aufgabe ist. Der positive Effekt der häuslichen Erfahrung mit der geschriebenen Familiensprache wurde über alle Fragen hinweg beobachtet. Die Ergebnisse stellen zum ersten Mal eine Verbindung zwischen der Erfahrung von schriftlicher Zweisprachigkeit und der Entwicklung von ToM-Fähigkeiten her.
Mein persönlicher Sprachspinat-Tipp
Wer sich weiter mit der ToM befassen möchte, findet auf dem Sonja-Eisenbeiß-YouTube-Kanal eine Playliste mit deutschsprachigen und englischsprachigen Videos (z.T. mit der Option von deutschsprachigen Untertiteln), in denen das Konzept erklärt wird. Außerdem findet man auf dieser Playliste auch Demonstrationen von Tests, mit denen man die ToM-Fähigkeiten von Kindern untersucht. Diese kann man selbst mit Kindern – oder auch mit Erwachsenen auf spielerische Weise durchführen.
Und wer bei zweisprachigen Kindern, die zuhause eine andere Sprache sprechen als in der Schule, das Lesen in der Familiensprache fördern, aber gleichzeitig auch das Lesen in der Schulsprache unterstützen möchte, kann auf die wachsende Anzahl von mehrsprachigen Büchern zurückgreifen. Bei solchen Büchern findet man dieselbe Geschichte in beiden Sprachen, wobei typischerweise auf der linken Seite des Buchs eine Sprache verwendet wird und auf der rechten Seite die andere Sprache.
Wer mehr über die Vorteile der Verwendung solcher mehrsprachigen Bücher und über mehrsprachige Kunst- und Literaturprojekte in der Schule erfahren möchte, kann an einem Praxis-Workshop teilnehmen, den ich bei der Jahrestagung des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache und in Köln am 27.2.2024 organisiere (Anmeldung bis13.2.2024). Das Thema des Workshops ist Mehrsprachigkeit kreativ in der Schule und die Vortragenden sind die Kinderbuchautorin Arzu Gürz Abay, die mehrsprachige Bücher schreibt, sowie Olesya Chayka und Maryna Markova vom Verein Koopkultur e.V., die mehrsprachige und multikulturelle Kunst- und Wissenschaftsprojekte in Berlin organisieren. Ich selbst halte bei der Tagung außerdem noch im Workshop Mehrsprachiges Assessment: Chancen und Herausforderungen einen Vortrag zu Studien aus einem laufenden Projekt von Chris Bongartz und Jacopo Torregrossa, in dem ich zusammen mit Andrea Listanti arbeite. In diesen Studien weisen wir nach, dass mehrsprachige Kinder bei unterschiedlichen Aufgaben bessere Leistungen in der Schulsprache zeigen, wenn sie nicht nur diese Sprache, sondern auch ihre anderen sprachlichen Kenntnisse nutzen können. Mehr dazu demnächst auf diesem Blog. Eine ältere Studie aus diesem Projekt findet man bereits in einem Blogbeitrag.
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